Was wollen Konsumenten und wie ist im Individualprozess auszulegen? (OGH vom 30.10.2024, 4 Ob 4/24a und OGH vom 27.05.2024, 1 Ob 64/24d)

Wenn es um die Anfechtung von Fremdwährungskrediten aufgrund behaupteter sitten- und konsumentenschutzwidriger Vertragsbestimmungen (Klauseln) geht, begehren Kläger die Gesamtnichtigkeit des Kreditvertrages festzustellen und die Rückzahlung diverser Serviceentgelte, Gebühren sowie Zinsen der letzten drei Jahre vor Klagseinbringung. Hilfsweise werden mehrere gestaffelte Eventualbegehren gestellt, in diesen wird die Feststellung der Unwirksamkeit von einzelnen – hier im Anlassfall von fünf – Vertragsklauseln geltend gemacht. Konsumenten möchten, wenn es um Fremdwährungskredite geht, die Gesamtnichtigkeit des Vertrages aufgrund der Nichtigkeit einzelner Vertragsbestimmungen durchsetzen. Üblicherweise ist die relative Nichtigkeit für Konsumenten günstiger, beim Kreditvertrag hingegen ist das erklärte Ziel nur den „ausbezahlten Eurobetrag“ ohne Zinsen und Wechselkursrisiko zurückzahlen zu müssen.  Der OGH gibt diesen Klagebegehren, in mittlerweile sehr gefestigter Rechtsprechung, keine Folge. Jüngst hat er in 4 Ob 4/23a darüber hinaus auf die unterschiedlichen Auslegungskriterien im Verbandsprozess und im Individualprozess hingewiesen. Mit der ebenfalls hier diskutierten Entscheidung 1 Ob 64/24d vom 27.05.2024 hat der OGH in einem Individualprozess klargestellt, dass die Wertsicherung nach dem VPI vor allem bei längerer Vertragslaufzeit dem legitimen Bedürfnis des Vermieters entspricht, den Mietzins an die Geldentwertung anzupassen (1 Ob 64/24d).

Zu OGH vom 22.10.2024, 4 Ob 4/23a:

Es handelt sich um einen typischen Individualprozess im Zusammenhang mit Fremdwährungskrediten. Das große Ziel der klagenden Parteien besteht darin, aufgrund der Nichtigkeit einzelner Klauseln zu einer Gesamtnichtigkeit des Vertrages zu kommen. Damit wird das Ziel angestrebt, den gesamten Fremdwährungskredit „auszuhebeln“. Behauptet wird, dass mehrere zentrale Klauseln missbräuchlich und intransparent seien, ohne diese Klauseln sei der Vertrag nicht mehr durchführbar, weshalb es zur Gesamtnichtigkeit komme. Eine Schließung der entstandenen Lücken durch ergänzende Vertragsauslegung sei unionsrechtlich unzulässig. Dieses Ergebnis würde den wirtschaftlichen Vorteil bringen, das Fremdwährungsgeschäft zur Gänze als nichtig aufzufassen und nur Eurobeträge zurückzahlen zu müssen, schlussendlich wäre der gesamte Kreditvertrag weggefallen.  Der OGH hat in ständiger Rechtsprechung dem diesbezüglichen Anliegen eine Absage erteilt. Der OGH referiert in der Entscheidung 4 Ob 4/23a den aktuellen Stand der Judikatur zum „Trennungsmodell“ und kann sich auf  seine klare Judikaturlinie berufen, wonach  bei ausreichender Bestimmtheit eines Kreditvertrages der Entfall einzelner Klauseln nicht automatisch Gesamtnichtigkeit bewirkt. Bemerkenswert ist im vorliegenden Verfahren, dass der Vertrag eine Zinsgleitklausel enthält, welche dem Wortlaut der Vereinbarung folgend gegen § 6 Abs 1 Z 5 KSchG verstößt. Die Zinsgleitklausel sollte in der vertraglich vereinbarten Formulierung dazu führen, dass auf volle 0,125 Prozentpunkte aufgerundet wird. Dem hält der OGH allerdings entgegen, dass die Auslegung nach § 914 ABGB bei Verträgen im Individualprozess nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks verhaftet bleiben darf, sondern die Absicht der Parteien zu erforschen und der Vertrag so zu verstehen ist, wie dies der Übung des redlichen Verkehrs entspricht. Es ist „also nicht das, was schriftlich geäußert wurde, alleine entscheidend“ [4 Ob 4/23a, RZ 36 m.w.H. RS0017797]. Hier war die Einrede der Beklagten relevant, dass während der gesamten Vertragszeit die Aufrundung auf volle 0,125 Prozentpunkte nicht erfolgte. Die Rundung sei tatsächlich während des gesamten Kreditverhältnisses vielmehr kaufmännisch erfolgt. Im kaufmännischen Sinne wird dahingehend gerundet, dass abgerundet wird, wenn die Zahl an der ersten wegfallenden Dezimalstelle eine 0, 1, 2, 3 oder 4 ist, sonst wird aufgerundet. Die Behauptung der beklagten Bank, dass während der gesamten Vertragslaufzeit eine andere Praxis gelebt wurde, als vertraglich fixiert, hat die klagende Partei nicht substantiiert bestritten. Dies führt zu der hier interessierenden zentralen Aussage des OGH:

Entgegen dem Standpunkt der Kläger ist es im Individualprozess – anders als im Verbandsprozess (vgl. RS0121943) – auch nicht irrelevant, wie eine Praxis gehandhabt werde.“ (4 Ob 4/23a, RZ 38).

Der OGH führt nachdrücklich vor Augen, dass im Verbandsprozess aufgrund der Besonderheiten dieser Verfahrensart die Auslegung der Klauseln stets im kundenfeindlichsten Sinne zu erfolgen hat, wobei im Individualprozess gerade eine gegenteilige Auslegungspraxis gilt. Die gelebte Praxis und das Vertragsverständnis durch die gelebte Praxis artikulieren den Geschäftswillen, auch dann, wenn er sich nicht im Vertragstext niederschlägt. Dies entspricht auch der Klausel-RL 9313/EWG, wonach gemäß Art. 5 Satz 2 Klausel-RL im Zweifelsfall die für den Verbraucher günstigste Auslegung anzuwenden ist. Davor ist nur im Verbandsprozess abzugehen. Der OGH hält weiters fest, dass die beklagte Bank wegen des Grundsatzes des „venire contra factum proprium“ nach 20 Jahren gelebter Vertragspraxis nicht plötzlich auf eine einseitige – im Kreditvertrag zugrunde gelegte – Aufrundungsmöglichkeit zurückgreifen hätte können.

Zu OGH vom 27.05.2024, 1 Ob 64/24d:

Im vorliegenden Individualprozess hat eine Gruppe von Wohnungsmietern den Anspruch auf Geltendmachung der Mietzinsrückzahlung wegen einer behauptet unwirksamen Wertsicherungsvereinbarung an die Arbeiterkammer abgetreten. Dies ändert allerdings nichts daran, dass es ein Individualprozess ist und die Auslegungsmethoden des Individualprozesses heranzuziehen sind. Mit Entscheidung 1 Ob 64/24d wird die unzulässige Revision zurückgewiesen. In 3. Instanz haben sich die Kläger nur noch darauf gestützt, dass eine Anpassung des Mietzinses nach dem VPI sachlich nicht gerechtfertigt sei und deshalb gegen § 6 Abs. 1 Z. 5 KSchG und § 879 Abs. 3 ABGB verstoße. Der OGH führt vor Augen, dass die Wertsicherung nach dem VPI vor allem bei längerer Vertragslaufzeit dem legitimen Bedürfnis des Vermieters entspricht, den Mietzins an die Entgeltentwertung anzupassen um damit das Äquivalenzverhältnis zu wahren. Der OGH kann diesbezüglich auf eine ständige Rechtsprechung rekurrieren (6 Ob 226/18f, 2 Ob 36/23t; aber auch 8 Ob 64/24a, wo nur ein Verstoß gegen § 6 Abs. 2 Z. 4 KSchG geprüft wurde, die Wertsicherungsvereinbarung nach dem VP aber prinzipiell als zulässig eingeschätzt wurde). Der OGH hebt bei dieser Entscheidung erfreulicherweise nochmals hervor:

            „Dass die gewöhnliche Abnutzung der Wohnung keinen (real) degressiven Mietzins rechtfertigt, legte der Oberste Gerichtshof bereits zu 6 Ob 226/18f dar (ebenso 5 Ob 79/19g). Der Kaufkraftverlust des Geldes durch Inflation berührt den nominellen Mietzins zwar ebenso wenig wie die Sachleistung des Mieters. Relativ gesehen (also gemessen nach der Kaufkraft) verringert sich dadurch jedoch der innere Wert des Mietzinses, wohingegen der Wert der Sachleistung des Vermieters gleich bleibt.“ (1 Ob 64/24d, RZ 10)

Zusammenfassung:

Der OGH ist sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, aus nichtigen Vertragsklauseln eine Gesamtnichtigkeit des Vertrages abzuleiten. Wer einen Kredit in fremder Währung aufnimmt, muss diesen (auch in fremder Währung) zurückzahlen. Der Idee von Konsumenten, das gesamte Risiko des Fremdwährungskredites, dessen Risiko sie beim Vertragsabschluss günstig eingeschätzt haben, auf die Bank abzuwälzen, wird eine klare Absage erteilt. Genauso wichtig, wie das prinzipielle Festhalten des OGH am Kreditvertrag, ist die in beiden Entscheidungen vor Augen geführte Auslegung im Individualprozess. In 4 Ob 4/23a betont der OGH, dass eine vom Vertragstext abweichende, für den Konsumenten günstigere, gelebte Praxis im Individualprozess relevant ist. In 1 Ob 64/24d betont der OGH, dass der Vermieter seine (Sach-)Leistung auch dann erbringen muss, wenn die Gegenleistung einer inflationsbedingten (Geld-)Entwertung unterliegt. Die Abnutzung der Wohnung rechtfertigt keinen real degressiven Mietzins. Dieser von der Arbeiterkammer hartnäckig verfolgten Idee hat der OGH mittlerweile mehrfach eine Absage erteilt. Da die Wertsicherung nach dem VP zulässig ist, sollte (die Entscheidung vom 10.09.2024, 10 Ob 23/24s) von Experimenten, mit welchen auf andere Indezies zurückgegriffen wird, Abstand genommen werden.

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